Angeregt durch das aktuelle Thema der Ausgabe 3/2023 der Zeitschrift „Menschen“ (https://www.zeitschriftmenschen.at/) ist es mir ein Anliegen meine eigene Sichtweise darzustellen:
Gedanken zu Sozialer Isolation und Einsamkeit bei behinderten Menschen in Österreich
Allgemeine Grundsätze:
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Sei es biologisch, wo Mann und Frau zur Arterhaltung notwendig sind, sei es religiös wie aus der Schöpfungsgeschichte von Christentum, Judentum und Islam ersichtlich, sei soziologisch wo weltweit eine Tendenz zur Gruppenbildung in Form von Paaren, Familien, Stämmen, etc. zu beobachten ist.
Soziale Isolation und Einsamkeit des Individuums egal ob freiwillig oder unfreiwillig ist keine neue Entwicklung. Beispielhaft seien hier aufgeführt der Einsiedler bzw. Eremit (die Eremitage in St. Petersburg ist ein Extrembeispiel), religiöse Schweigegelübte und die Klausur in einem Kloster, Verbannung oder Isolationshaft in einem Gefängnis.
Die Einsamkeit von Hochbetagten (das impliziert ein Lebensalter von 80 oder mehr Jahren) die sich besonders dadurch ergibt, daß Freunde und (Ehe)Partner schon erheblich früher verstorben sind, wird hier nicht behandelt.
Es steht außer Streit, daß es einen Unterschied zwischen Einsamkeit (= das Gefühl) und dem Alleinsein (= ohne Gesellschaft sein) gibt.
Für Menschen mit Behinderung ergeben sich gerade durch die Behinderung zusätzliche Schwierigkeiten bei der zwischenmenschlichen Interaktion. Das kann zum Beispiel eine Sinneseinschränkung, eine Bewegungseinschränkung, logopädische Probleme oder ein ungewöhnliches Verhalten sein.
Rechtliche und soziale Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit:
Zentral ist hier der Betritt der Republik Österreich zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2006) im Jahr 2006 sowie die Ratifikation im Jahr 2008. So findet sich an prominenter Stelle in der Präambel sowie in Artikel 1 und Artikel 3 der Hinweis, daß die Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderung besonders wichtig ist. Es versteht sich von selbst, daß internationale Konventionen den kleinsten gemeinsamen Nenner der Staatengemeinschaft darstellen. Sonst würde natürlich kein Staat diese Vertragswerke unterzeichnen und ratifizieren. Der Monitoringausschuss (österreichischer Monitoringausschuss) überwacht die Umsetzung der Konvention in nationales (hier: österreichisches) Recht. Der Nationale Aktionsplan Behinderung 2022-2030 (der erste Aktionsplan war von 2012 bis 2020) ist das zentrale Planungsdokument für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf Bundesebene. Der Nationale Aktionsplan Behinderung (Nationaler Aktionsplan Behinderung, 2022) wird jeweils unter der Federführung des Sozialministeriums erstellt.
Daher ist die Lebensrealität von behinderten Menschen in erster Linie von nationalen Gesetzen und deren Vollziehung geprägt. Exemplarisch sei der Artikel 7 und Artikel 8 des österreichisches Bundes-Verfassungsgesetzes (Bundes-Verfassungsgesetz) erwähnt. Artikel 7 hält unter anderem fest „[…] Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten. […]“. Artikel 8 unterstreicht die Bedeutung der Österreichischen Gebärdensprache wie folgt: „[…] Die Österreichische Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt. Das Nähere bestimmen die Gesetze. […]“.
Auf einfachgesetzlicher Ebene soll das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz) als Beispiel dienen. Die im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz normierten Rechte sind signifikant weniger stark ausgeprägt als im Bundesgesetz über die Gleichbehandlung (Bundesgesetz über die Gleichbehandlung) in welchem faktisch alle Diskriminierungstatbestände außer Behinderung behandelt werden. Im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz gibt es Schadenersatz, es gilt der Grundsatz „Schlichtung vor Klage“ und es gibt einen Kriterienkatalog von „Unverhältnismäßigen Belastungen“ (sic!) welche es erlauben eine behinderungsbedingte Diskriminierung nicht zu beenden bzw. im Falle einer baulichen Barriere diese nicht zu beseitigen. Im Bundesgesetz über die Gleichbehandlung hingegen, ist auch Schadenersatz vorgesehen, sind auch (meist höhere) Geldstrafen normiert, es kommt fast automatisch zu Verwaltungsstrafen und die Diskriminierung muß zukünftig unterlassen werden.
In den letzten Dekaden hat sich die zwischenmenschliche Interaktion bedingt durch technische Entwicklungen radikal geändert. Der Autor dieses Textes ist der Meinung, daß die Omnipräsenz des Internets zu einem günstigen Preis, die Verfügbarkeit von Mobiltelephonen insbesondere Multifunktionsgeräte wie Smartphones und die Möglichkeit des günstigen Personentransports im Massentransport (zum Beispiel günstige Flugreisen) sowie im Individualverkehr (PKWs sind erschwinglich und es gibt sogar Mietwagen für Rollstuhlfahrer) und Übersetzungsprogramme die zwischenmenschliche Interaktion maßgeblich prägen.
Das Internet ist Bibliothek und Bühne zugleich. Mit einer nie zuvor dagewesenen Leichtigkeit kann Wissen und Information erlangt werden. Oft wird in diesem Zusammenhang von einem „Informationsüberfluß“ gesprochen. Medienkompetenz und Quellenkritik sind auch heute noch wichtige Fertigkeiten. Es kann vermutet werden, daß besonders für junge Menschen es zu einer Überschneidung zwischen ihrer physischen und ihrer digitalen Identität kommt, wenn man beobachtet wie und welche Informationen auf Netzwerken wie Facebook, Twitter, Instagram und TikTok von Nutzern bekanntgegeben und verbreitet werden. Eine Herausforderung ist, daß Informationen (auch Jugendsünden) im Internet nicht vergessen werden und nur schwer gelöscht werden können. Im Internet kann man sogar eine „Freundschaftsanfrage“ von einem Pseudonym bekommen, wodurch die traditionelle Unterscheidung „Fremdheit“, „Bekanntschaft“, „Freundschaft“, „gute Freundschaft“ und „beste Freundschaft“ nur noch bedingt zutrifft. Behinderte Menschen sollten Vorsicht walten lassen und eine rein digitale „Freundschaft“ nicht mit einer Freundschaft in der physischen Welt gleichsetzen, zumal die Bühne des Internets zu einer falschen Selbstdarstellung verführen kann.
Die Verfügbarkeit von Mobiltelephonen insbesondere Multifunktionsgeräte wie Smartphones, welche von der Rechenleistung schon fast einem herkömmlichen Computer ebenbürtig sind, sowie der flächendeckende des Ausbau des Mobilfunks in Österreich sorgen dafür, daß das Medium Internet immer und überall verfügbar ist. Diese mediale Reizüberflutung in Verbindung mit einer Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit sorgt gemäß Kinnert (Kinnert, 2021) für eine „neue Einsamkeit“. Es mag der Jugend der Autorin geschuldet sein (sie ist Jahrgang 1991) aber diese Form der Einsamkeit ist nicht neu! Man erinnere sich nur an die vielen Menschen im Kaffeehaus welche zwar im Gastraum an Tischen saßen, aber nur stundenlang Tageszeitungen gelesen haben. Mit dem Aufkommen des (Farb)fernsehens trifft das auch für den Fernsehkonsum zu.
Die Möglichkeit des günstigen Personentransports im Massentransport sowie im Individualverkehr bieten die Chance das eigene soziale Netz geographisch zu erweitern, sei es für Ausbildung, Arbeit oder den Freizeitbereich. Gerechterweise ist es derzeit noch etwas umständlich und kann nicht immer spontan erfolgen (so verlangen zum Beispiel Fahrtendienste und die Österreichischen Bundesbahnen eine Voranmeldung), aber so haben auch behinderte Menschen, die kein eigenes Auto haben oder sich ein Taxi nicht leisten können, die Möglichkeit an den öffentlichen Leben teilzuhaben.
Übersetzungsprogramme schließlich überwinden sprachliche Barrieren. Sei es die klassische Fremdsprache im Sinne einer Lautsprache zu Lautsprache, Vorleseprogramme, Diktierprogramme sowie die Gebärdensprachen.
Die vorstehend erwähnten Entwicklungen sind im Gegensatz zu der Vergangenheit zu sehen, wo nur eine physisch, räumlich und großteils sprachlich limitierte zwischenmenschliche Interaktion möglich war. Vorbei die Zeit wo behinderten Menschen mit der Enge der dörflichen Struktur oder dem Stadtbezirk vorlieb nehmen mußten. Natürlich ist die Inklusion in Kindergarten, Volksschule, Trachtenverein, Musikverein, Sportverein, Gesangsverein und beim Feuerwehrfest begrüßenswert, aber das soll erst der Anfang sein, nicht das Ende.
Aktuelle Rückschritte:
Umso bedrückender daher der Umstand, daß in Teilbereichen Rückschritte bei der gesellschaftlichen Teilhabe von behinderten Menschen zu beobachten sind. Verdeutlicht wird das in der schriftlichen Stellungnahme des Österreichischen Monitoring Ausschusses zur Situation von Menschen mit Behinderungen (Menschen mit Behinderungen während der COVID-19-Pandemie – 2021) aus welcher man herauslesen kann, daß die Freiheitsbeschränkungen für behinderte Menschen in Einrichtungen, Wohngemeinschaften und Beschäftigungsprojekten (vulgo „geschützte Werkstätten“) teilweise erheblich rigider waren, als gesetzlich vorgesehen war. Auslegungsschwierigkeiten, mögliche Normenkollisionen und oftmals fehlende Strafbestimmungen machen die Angelegenheit nicht einfacher.
Die moderne Bedindertenpolitik in Österreich ist immer noch aktivistisch geprägt und stark abhängig von charismatischen Einzelpersonen. Bedauerlicherweise sind viele Aktivisten kürzlich verstorben. Stellvertretend für viele andere seien hier Behindertenanwalt Herr Dr. Hansjörg Hofer (2022), Frau Theresia Haidlmayr, ehemalige Abgeordnete zum Nationalrat (2022), Herr Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrates (2021), Herr Pepo Mayer, Aktivist und Künstler (2023) und Herr Dr. Erwin Riess, Autor (2023) erwähnt (Nachrufe).
Andere wie Dr. Franz-Joseph Huainigg (Huainigg, 2023) sind nicht mehr im Nationalrat vertreten und seine Nachfolgerin ist Frau Kira Grünberg (Grünberg, 2023).
Auch innerhalb des Bundes gab es Versuche die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Beispielhaft sei hier die Demonstration durch Georg Wessely (Wessely, 2010) gegen die Sparpläne des damaligen Sozialministers Hundstorfer erwähnt.
Wider den Zeitgeist!
Den aktuelle Zeitgeist ist gekennzeichnet durch eine extreme Polarisierung der Gesellschaft, in radikale Befürworter und Gegner von Maßnahmen. Absurderweise reichen schon unterschiedliche Standpunkte bei einem einzigen Thema (zum Beispiel die Frage des Impfens bei COVID-19) um Familien zu entzweien und enge Freundschaften zu beenden. Es besteht die Hoffnung, daß die Gesellschaft wieder zu einer Diskussionskultur zurück findet.
Getreu des Sprichwortes „aus den Augen, aus dem Sinn“ ist es unabdingbar, daß behinderte Menschen im öffentlichen Raum sichtbar sind (damit auch sozialer Isolation sowie unfreiwilliger Einsamkeit entkommen) und im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre eigenen Anliegen vertreten, ganz im Sinne der „Selbstbestimmt leben Bewegung“ mit dem Konzept „Nichts über uns ohne uns!“. Wie vorstehend erwähnt, zeigen die negativen Erfahrungen von behinderten Menschen während der Pandemie, daß dringender Handlungsbedarf besteht.
Wieder einmal bewahrheitet sich, daß jene welche Maßnahmen beschließen, meistens nicht davon betroffen sind und jene die von Maßnahmen betroffen sind, haben beim Interessensausgleich kein Mitspracherecht.
Physische Begegnungen können auch die zwischenmenschliche Interaktion dahingehend verbessern, daß behinderte Menschen gleichsam automatisch an Handlungen und Aktivitäten teilnehmen, da Inklusion kein Gnadenakt, sondern – zumindest nach der Geburt (in Österreich ist die Abtreibung von behinderten Leben bis unmittelbar vor der Geburt gemäß § 96 bis § 98 Strafgesetzbuch straffrei!) – ein kodifiziertes Recht ist.
Möge dieser Text der (Selbst)motivation dienen, Dinge zum Besseren – nämlich zu einer besseren Lebensqualität für alle – zu verändern.
Literatur: (in der Reihenfolge wie sie im Text erwähnt werden)
- Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2006 Siehe https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2008_III_155/BGBLA_2008_III_155.pdfsig sowie die Übersetzung in deutscher Sprache: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2008_III_155/COO_2026_100_2_483536.pdfsig Das Original in englischer Sprache findet sich hier: https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-rights-persons-disabilities
- Österreichischer Monitoringausschuss: Die Arbeiten des österreichischen Monitoringausschusses sind unter https://www.monitoringausschuss.at/ abrufbar.
- Nationaler Aktionsplan Behinderung, 2022 abrufbar unter: https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=521&attachmentName=NAP_Behinderung_2022-2030_pdfUA.pdf
- Bundes-Verfassungsgesetz, abrufbar unter: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138
- Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz, abrufbar unter https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004228
- Bundesgesetz über die Gleichbehandlung, abrufbar unter https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20003395
- Kinnert, Diana (2021): Die neue Einsamkeit. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag
- Menschen mit Behinderungen während der COVID-19-Pandemie – 2021. Die schriftliche Stellungnahme des Österreichischen Monitoring Ausschusses ist unter https://www.monitoringausschuss.at/stellungnahme/menschen-mit-behinderungen-waehrend-der-covid-19-pandemie-2021/ abrufbar.
- Nachrufe: Nachrufe sind jeweils unter den folgenden Links abrufbar: https://www.bizeps.or.at/langjaehriger-behindertenanwalt-dr-hansjoerg-hofer-ist-tot/, https://www.bizeps.or.at/bundespraesident-betroffen-ueber-ableben-von-theresia-haidlmayr/, https://www.bizeps.or.at/bizeps-trauert-um-herbert-pichler/, https://bmin.info/WP/2023/01/09/aktivist-und-kuenstler-pepo-meia-verstorben/, https://orf.at/stories/3310298/
- Wessely, Georg (2010): https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20101116_OTS0234/aviso-donnerstag-demonstration-gegen-hundstorfer-sparplaene
- Huainigg, Dr. Franz-Joseph (2023): https://www.parlament.gv.at/person/14759
- Kira, Grünberg (2023): https://www.parlament.gv.at/person/1979
- Strafgesetzbuch: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10002296
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